SPIRITUELLE PRAXIS
Ein geregeltes Leben ist die Grundlage für spirituelle Praxis. Dies lässt sich mit einer einfachen Botschaft beschreiben: Konzentriere dich auf Aktivitäten, die den spirituellen Fortschritt fördern, und lehne Aktivitäten ab, die diesem nicht förderlich sind. In unserer Tradition gibt es kein dogmatisches Normensystem in Form von Verboten oder Geboten. Stattdessen sprechen wir darüber, was unterstützend und was einschränkend ist. Jeder entscheidet nach seinen eigenen Wünschen über die Qualität seines eigenen Lebens. Als Anreiz teilen wir die Grundsätze, die uns am Herzen liegen und die uns inspirieren und deren Verwirklichung unser Leben mit einer neuen Qualität und innerem Frieden erfüllt.
Es ist selbstverständlich, dass die verkündeten Werte durch Handlungen im Alltag bestätigt werden müssen. Dies gilt für alle ernsthaft praktizierenden Gläubigen, insbesondere für diejenigen mit dem Status eines Geistlichen.
Während ihrer täglichen Praxis (sādhanā) unternehmen Gläubige verschiedene Aktivitäten, um sich innerlich zu stärken und die spirituelle Energie zu sammeln, die notwendig ist, um dem Weg der Selbstverwirklichung zu folgen und letztlich den Sinn des Lebens zu erreichen. Nachfolgend finden Sie eine Beschreibung ausgewählter Praktiken (sādhanā) und Aktivitäten, die, wenn sie systematisch und korrekt, mit Vertrauen und Hingabe ausgeführt werden, es den Aspiranten ermöglichen, ständig Liebe (prema) zu erfahren, von der der Sonnengott Sūrya eine göttliche Manifestation ist.
Śravaṇa bedeutet Zuhören oder Aufmerksamkeit in einem spirituellen Sinne, z. B. den Lehren eines Gurus oder den Heiligen Schriften zuhören. Das Ziel besteht darin, die Lehren zu verstehen und zu akzeptieren, damit eine Person sich entwickeln und zu einer höheren Bewusstseinsebene aufsteigen kann. Śravaṇa gilt als der erste Schritt auf dem Weg zum Verständnis und zur Verwirklichung spiritueller Wahrheiten. Es manifestiert sich in der Suche nach Weisheit und Wissen, die darauf abzielt, die wahre Natur der Realität zu erkennen.
Svādhyāya bedeutet die spirituelle Praxis des Selbststudiums. Sie umfasst das Lesen von Schriften und das Nachdenken über Philosophie und spirituelle Lehren, um ihre tiefere Bedeutung zu verstehen. Sie bezieht sich auch auf das gemeinsame Studium in der Gesellschaft eines spirituellen Lehrers oder anderer Gläubigen (satsaṅga). Svādhyāya hilft uns, die Natur der feinstofflichen Körper und unsere Neigung, uns mit unserem eigenen Körper, Geist und unserer Persönlichkeit zu identifizieren, zu verstehen.
Manana ist der dritte Schritt auf dem spirituellen Weg nach Śravaṇa (Zuhören) und Svādhyāya (selbstständiges Studium). Manana bedeutet Reflexion, Kontemplation und Meditation über die Lehren. Es kann verschiedene Formen annehmen, von der Reflexion bis zur Meditation, dem Führen eines Tagebuchs und Gesprächen mit anderen. Es ermöglicht die Integration der beiden vorangegangenen Phasen und den Übergang von intellektuellem Wissen zu persönlicher Erfahrung und Verwirklichung. Dadurch entsteht der Wunsch, spirituelle Lehren im eigenen Leben anzuwenden.
Jāpa bedeutet Wiederholung oder Rezitation und bezieht sich auf die Praxis des Mantrasingens. Sie folgt strengen Regeln. Der Praktizierende (sādhaka) sitzt auf einem Stück Stoff oder einer Matte (āsana) in einer bestimmten Position, normalerweise mit gekreuzten Beinen (sukhāsana) oder in der sogenannten Lotusposition (padmāsana), mit geradem Rücken und dem Gesicht nach Osten gewandt. Mit konzentriertem Geist und der Aufmerksamkeit auf den Punkt zwischen den Augenbrauen gerichtet, wiederholen sie eine bestimmte Anzahl von Malen ein Mantra, mit dem sie meditieren. Meistens ist es ein Vielfaches von 108 Wiederholungen. Zum Zählen werden spezielle Meditationsperlen (mālā) verwendet, die aus 108 Perlen und einer zusätzlichen, Meru genannten Perle bestehen. Mālā bestehen in der Regel aus Samen (z. B. rūdrākṣa), Holz (z. B. tulasī) oder Steinen (z. B. Bergkristall). Jāpa ist eine individuelle Praxis, die nach festen Regeln durchgeführt wird.
Bhajan ist das gemeinschaftliche Singen von hingebungsvollen Gesängen und das Folgen der dadurch erzeugten Stimmung. Diese Praxis wird oft mit traditionellen Instrumenten wie Tānpurā, Tablā, Harmonium und anderen ausgeführt. Bhajan ist ein wichtiger Teil der Tradition. Er stärkt die Gemeinschaft, in der er spirituell praktiziert wird, und hilft den Gläubigen, auf einfache und angenehme Weise in eine Atmosphäre der Kontemplation, des Friedens und der spirituellen Erhebung einzutauchen.
Kīrtan ist das gemeinsame Singen von Hymnen, Mantras, heiligen Namen oder Lobpreisungen zu Ehren von Gottheiten. Die Praxis wird von einer Person geleitet, die einen Teil oder den gesamten Text singt, während die anderen ihn nach dem Vorsänger wiederholen. Dies wird oft von Musik begleitet. Kīrtan ist dynamischer, freudiger und energiegeladener. Es kann von einem kollektiven, freudigen Tanz begleitet werden. Diese Praxis ermöglicht es, einen Zustand spiritueller Ekstase und Vereinigung mit dem Absoluten zu erreichen.
Naivedya ist die Darbringung ritueller Opfer an die Gottheiten in Form von Speisen und Getränken. Es ist ein sehr wichtiger Teil der täglichen Praxis. Dabei werden verschiedene Arten von angemessenen Gerichten, Süßigkeiten und Früchten zubereitet und den Gottheiten dargebracht. Die Opfer der Gläubigen haben auch die symbolische Dimension, alles, was sie haben, der Höheren Macht darzubringen. Es ist wichtig, daran zu denken, dass das Anbieten von Produkten, die nicht den Grundsätzen von ahiṃsā (z. B. Fleisch) und śauća (z. B. Alkohol) entsprechen, als beleidigendes Verhalten angesehen wird und Unglück bringt. Nachdem es den Gottheiten angeboten wurde, wird naivedya an die Gläubigen verteilt und als gesegnete, geweihte Opfergabe (prasādam) verzehrt.
Bhoga ist der gemeinschaftliche Verzehr von Speisen, die den Göttern geopfert werden. Es handelt sich um gesegnete Speisen, die als vollständige Mahlzeit serviert werden (im Gegensatz zu Prasādam). Sie werden den Gläubigen am Ende verschiedener Zeremonien, Feste und wichtiger Ereignisse wie einer Namensgebungszeremonie oder einer Hochzeit serviert. In der Tradition sind gemeinsame Mahlzeiten ein wichtiges Element, das die Gemeinschaft spirituell vereint. Die Gläubigen sitzen auf dem Boden und beten gemeinsam zur Göttin (devī) Annapūrṇā, der Spenderin von Nahrung und Überfluss, und danken ihr für ihre Gnade. Annapūrṇā ist die weibliche Form des Absoluten, die sich als fürsorgliche Mutter manifestiert, die das gesamte Universum nährt. Traditionell wird eine solche Mahlzeit normalerweise ohne Besteck und nur mit der rechten Hand gegessen. Dies steht im Zusammenhang mit dem Prinzip von pañća bhūta, d. h. den fünf Grundelementen, die die Grundlage der kosmischen Schöpfung bilden. Dies sind Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther, d. h. der Raum. Laut der traditionellen indischen Medizin (āyurveda) und der Yogapraxis (Yoga) stehen die Pañća Bhūta in Zusammenhang mit der allgemeinen menschlichen Gesundheit. Jede Störung in unserem Körper deutet auf ein Ungleichgewicht eines oder mehrerer dieser Elemente hin. Dieses Wissen setzt diese fünf Elemente mit den fünf Fingern der menschlichen Hand in Verbindung. Das Essen mit den fünf Fingern der Hand gleicht diese Elemente aus und fördert so unsere Gesundheit. Dieses Prinzip gilt auch für Mudras, rituelle Fingerhaltungen, die in spirituellen und heilenden Praktiken verwendet werden. Während des Bhoga ist es wichtig, eine ruhige und gelassene Atmosphäre voller Dankbarkeit zu bewahren. Es ist ein Prozess, bei dem man die direkte Gnade der göttlichen Kraft erfährt. Bei Gesprächen während einer gemeinsamen Mahlzeit sollten keine materialistischen oder negativen Themen angesprochen werden.
Sevā ist ein freiwilliger Dienst oder eine Handlung der Hingabe an die Gottheiten, den Tempel und andere Menschen. Sie kann in Form von Pflege der Statuen und Ikonen der Gottheiten (mūrti), Reinigung des Tempels, Hilfe bei der Zubereitung von Speisen und Opfergaben für die Gottheiten oder Hilfe bei der Erziehung und Unterweisung der Gläubigen erfolgen. Es kann auch selbstlose Hilfe und Unterstützung für Bedürftige sein. Sevā ist der Ausdruck von Liebe und Respekt für das ewige Wesen und die Gemeinschaft. Es ist der Weg zur Selbstverwirklichung durch den Dienst an anderen.
